Dasein in absentia
Cees Nootebooms Roman «Allerseelen»
von Angelika Overath
Allerseelen, der 2. November, der Tag nach
Allerheiligen, ist im katholischen Ritus der Tag, an dem
der Toten gedacht wird. «Allerseelen» ist der
Titel des neuen Romans von Cees Nooteboom. Gleich zu
Beginn wird der Held vorgestellt als ein Mann, der mit
dem Tod vertraut ist. Vor neun Jahren hat der
Dokumentarfilmer Arthur Daane durch ein
Flugzeugunglück seine Frau Rolfje und seinen kleinen
Sohn Thomas verloren. Seither beschäftigt er sich
neben der Brotarbeit (er ist Berichterstatter vornehmlich
in Krisengebieten) mit einem anderen Filmprojekt. Er
möchte die unauffälligen Strukturen des Lebens
festhalten, das, was überall da ist, was aber jeder
übersieht. Er filmt Trittspuren im Schnee, anonyme
Schritte der Eilenden in der U-Bahn, Sandverwerfungen,
Baustellen. Am liebsten filmt er, wenn kein anderer mehr
filmt: bei beginnender Dunkelheit. Er braucht den
Abschied des Lichts, denn er will etwas festhalten, das
da ist, indem es vergeht.
Arthur Daane ist Holländer. Er lebt in Berlin.
Der Roman spielt Mitte der neunziger Jahre. Unter das
biographisch motivierte Totengedenken des Helden schiebt
sich ein geschichtlich begründetes. Das Berlin von
Daane ist das Berlin nach der Wende-Euphorie. Berlin
figuriert in dem Roman als Ort der Grabungen, als
archäologische Stätte, an der allenthalben die
Schichtungen der Vergangenheit zutage treten und wieder
im Untergrund verschwinden.
Im Sog der Geschichte
Das Wort Geschichte ist doppeldeutig. Es meint das,
was erzählt werden kann, und das, was geschehen ist.
Nootebooms Roman kreist um das uralte Problem der
Geschichtsschreibung: wie das Untergegangene in der
Erzählung greifbar gemacht, bewahrt, ja gerettet
werden kann, wie es vielleicht gerade dadurch aber auch
entstellt und verfälscht wird. Nur durch die
Erzählung ist uns das Verlorene gegeben, nie reicht
die Erzählung aber an ihren Gegenstand heran. So ist
Elik, die Geliebte des Dokumentarfilmers, nicht
zufällig Historikerin. Und als glitte sie im Sog der
Geschichte dauernd aus der Gegenwart heraus, erweist sie
sich als «Weltmeisterin im Abschiednehmen». Sie
ist faszinierend da, weil sie plötzlich wieder
verschwindet. Sie lockt durch Entzug. Elik schreibt eine
Dissertation über eine spanische Königin des
hohen Mittelalters; im Text spiegelt sich die nahezu
unmögliche Recherche nach dem Dasein der
Königin aus einer vergangenen Zeit mit der Suche des
Helden nach der Frau, die in der Jetztzeit zur
Königin des Verschwindens wird.
Wie Elik sind alle Figuren im Roman tendenziell
flüchtig und kaum auf ein bestimmtes Profil
festlegbar. Arthur Daane ist eingebunden in einen Kreis
von holländischen und russischen Freunden. Victor
etwa ist Pianist und Bildhauer und Dichter und
Bergsteiger, die Russin Zenobia ist theoretische
Physikerin und schreibt Rezensionen und betreibt eine
kleine Photogalerie. Auch Erna hat einmal Philosophie
studiert und dann ins Fach Niederländisch
gewechselt. Sie lebt in Amsterdam. Ihre vernünftige,
besänftigende Stimme kommt vom Anrufbeantworter oder
aus dem Telefon nach Berlin.
Aber nicht nur Erna ist auf diese Weise ein beinahe
körperloses Wesen. Auch das Geschehen zwischen den
Menschen, die sich in Berlin treffen, spielt sich
letztlich als blosser Austausch von Wörtern ab.
Auffallend ist, dass die Freunde fast personifizierte
Bücher zu sein scheinen. Biographisch decken sie
Fachgebiete ab. Der Held lebt nicht mit den Personen,
sondern mit ihren Stimmen, und selbst wenn sie
unmittelbar anwesend sind, taucht er ab in erinnerte
Gespräche mit ihnen. In unregelmässigen
Abständen sprechen unbekannte Tote in den Text
hinein. Sie bilden einen vagen Chor und verstärken,
indem sie sprechen, das Grundgefühl, dass der
Erzähler des Romans nicht verlässlich da ist.
Dem Buch ist ein Motto von Kafka vorangestellt: «Nun
haben die Sirenen eine noch schrecklichere Waffe als den
Gesang, nämlich ihr Schweigen.» Die Sirene des
Buchs ist die rätselhafte Elik, die den modernen
Odysseus auf seinen Irrfahrten bis an die Räume der
Auflösung und des Schweigens heranführt.
Die ersten gut dreihundert Seiten des Romans spielen
an vier aufeinanderfolgenden Tagen in Berlin. Auf den
folgenden knapp 150 Seiten reist der Held nach Estland,
nach Japan, nach Holland und nach Spanien. Am Ende wird
er fast erschlagen. Man will ihm seine Kamera stehlen.
Nach sechs Wochen im Koma kommt er wieder zu sich. Seine
Gefährten stehen an seinem Bett. Als Genesender
fährt er zurück nach Norden, er folgt nicht
mehr der Anziehungskraft Eliks.
Das Buch irritiert, indem es sich verweigert. Es ist
kein Berlin-Roman der Nachwendezeit, dazu ist Berlin zu
wenig präsent. Wir folgen einem Mann, der zwar durch
Berlin läuft, aber Gespräche erinnert. Er geht
ganz konkrete Strassen und Plätze ab, was ihn aber
dort interessiert, ist selten das spezifische Gewicht des
Augenblicks, sondern eine mystische
Überwältigung der Gegenwart durch die
Vergangenheit. Er opfert seine Aufmerksamkeit dem
Verschwinden und dem Verschwundenen. Filmend provoziert
er die Epiphanie der Toten. Er sucht die Schatten; er
sucht die authentischen Bilder der Vergänglichkeit.
Ist «Allerseelen» die überzeugende
Geschichte einer Obsession? Eine Liebesbegegnung ist ein
anonymer ekstatisch wütender Ritt der Frau, eine
«absolute Form des Vergessens» stellt sich ein,
«wenn die Körper in diesem Zimmer ihre Personen
vergessen hatten». Elik erscheint als reduzierte
Frau, die keine Ansprüche erträgt, die, in
ihrer Kindheit von einem Vergewaltiger mit einer
Zigarette im Gesicht gebrandmarkt, Männer nur noch
wütend betören und verlassen kann. Aber warum
nimmt Arthur sie in ihrer Beschädigung als Mensch
nicht ernst, sondern setzt sich ihr in einem haltlosen
Rausch aus?
Last der Toten
«Du bist ewig dabei, aus der Gegenwart eine
Vergangenheit zu machen (. . .) Auf diese Weise bis du
nie irgendwo richtig», sagt ihm Erna, die immer
alles auf den Begriff bringen kann, am Telefon. Arthur
Daane hat das Mass für das banale Präsens
verloren. Vielleicht weil ihm das Leben zuviel ist, er
empfindet die Last von zuviel Geschichte und von zu
vielen Toten.
Cees Nooteboom richtet mit aller Konsequenz die
Erzählhaltung auf einen Helden aus, der sich dem
Dasein verweigert. Wenn der Roman scheitert, so scheitert
er auf eine konsequente, sehr kunstvolle Weise. Nooteboom
nimmt Arthurs teilnahmslose Wahrnehmung ernst. Er
versucht, einen Text ohne Bodenhaftung zu schreiben. Wenn
aber der Blick des Dokumentarfilmers, der nichts mehr
festhalten, der sich dem Sog des Verschwindens
anheimgeben will, zum erzählerischen Gestus wird,
liegt die Gefahr nahe, dass ein gespenstischer Roman
&endash; ohne erfahrbare Orte, ohne plausible Figuren
&endash; entsteht.
Scheitert der Roman? Es gibt in dem Buch eine
Bandbreite vom schlichten Geplapper bis hin zu mystischen
Augenblicken. Viel Philosophisches wird zelebriert. Das
Reflexionsniveau ist so hoch, dass in der Diskussion der
Romanfiguren die möglichen Einwände gegen die
Erzählhaltung bereits vorweggenommen sind. Dem Leser
wird bedeutet: Der Autor wollte es so. Vielleicht sollte
er ihm vertrauen. Vielleicht aber hätte Nooteboom
aus «Allerseelen» auch zwei Bücher machen
sollen, eines über die uralte Frage, warum ein
Mensch leben soll, wenn er doch sterben muss, und ein
zweites Buch über Elik, in dem diese Figur nicht nur
ab der Mitte des Texts als ein Segel der Dynamisierung
gesetzt wird. Aber vermutlich war ihm die Sirene für
ein ganzes Buch zu bedrohlich, und Odysseus ist doch
wieder auf dem Heimweg zu Penelope.
Cees Nooteboom: Allerseelen. Roman. Aus dem
Niederländischen von Helga Breuningen.
Suhrkamp-Verlag, Frankfurt 1999. 440 S., Fr. 44.50.
© Neue Züricher Zeitung -
15.04.1999